Dr. Matthias Stiehler

Der Glaube eines Olympiasiegers

12. August 2016: Ich lese in der Zei­tung ein Inter­view zum Auf­takt der olym­pi­schen Leicht­ath­le­tik­wett­kämp­fe mit dem Top-Sprin­ter Usain Bolt (Ost­see Zei­tung). Eine Fra­ge lau­tet: “Vor dem Start bekreu­zi­gen Sie sich, deu­ten mit dem Fin­ger gen Him­mel und tra­gen immer ein Glück­s­amu­lett bei sich. War­um?” Und Bolts Ant­wort lau­tet: “In die­sen Sekun­den bit­te ich Gott, mir Stär­ke zu geben.”

Sol­che Aus­sa­gen cha­rak­te­ri­sie­ren sehr gut das, was ich als “heid­ni­schen Glau­ben” bezeich­ne. Aber nicht, weil Bolt ein Glück­s­amu­lett benutzt. Es geht mir viel­mehr um sei­ne Vor­stel­lun­gen von Stär­ke, die Gott uns geben soll. Es ist die Stär­ke des Gewinnens.

Was aber ist das für ein Gott, an den hier geglaubt wird? Ein Gott der Stär­ke, ein Gott der Unge­rech­tig­keit. War­um soll­te er dem einen Stär­ke geben, dem ande­ren aber nicht? Weil der eine ihn bit­tet, der ande­re aber nicht? Doch solch ein Ver­ständ­nis hält der Rea­li­tät nicht stand, ohne unmensch­lich zu wer­den. Es wird einem Gott der Gewin­ner gehul­digt – und das in einer Welt, die vol­ler unver­schul­de­ter Ver­lie­rer ist: all die hun­gern­den Men­schen, die viel zu früh Gestor­be­nen, die bru­tal Getö­te­ten, die ver­nach­läs­sig­ten, miss­brauch­ten und durch ihre Eltern ver­dor­be­nen Kin­der — Unse­re Welt ist vol­ler unschul­di­ger Ver­lie­rer. Was also ist das für ein Glau­be, der sich erhofft, von Gott Stär­ke für einen Olym­pia­wett­kampf zu bekommen?

Wobei auch gesagt wer­den muss: Es fällt bei einem Olym­pia­sie­ger nur etwas leich­ter auf, dass hier einem irr­sin­ni­gen Glau­ben gefröhnt wird. Aber hal­ten wir uns vor Augen, dass die­se Art des Gott­ver­ständ­nis­ses inner­halb aller Reli­gio­nen eher die Nor­ma­li­tät ist. Es ist ein “heid­ni­scher Glau­be” im Sin­ne der Hoff­nung, durch Gott zu den Gewin­nern zu gehören.

Im Buch »Ist Gott noch zu ret­ten?« wird auf­ge­zeigt, dass gera­de der Ursprung des Chris­ten­tums im Schei­tern die­ser Hoff­nung liegt. Es fin­det ein Para­dig­men­wech­sel statt, eine Abkehr vom alten Gewin­ner­glau­ben, hin zu einer rea­lis­ti­schen Sicht unse­rer Welt. (Die übri­gens auch und gera­de vom Chris­ten­tum bis heu­te ver­ra­ten wird.) Mei­ne The­se ist, dass sich durch die Akzep­tanz, dass es eben nicht ums Gewin­nen geht eine tie­fe Glau­bens­di­men­si­on eröff­net – nur eben anders als gewohnt.

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

Zurück