Dr. Matthias Stiehler

Die Spaltung der Gesellschaft als Abwehr eigener Ambivalenz

Die Abstim­mung zum Aus­tritt Groß­bri­tan­ni­ens aus der EU zeig­te ein­mal mehr, was in sol­chen Momen­ten von den Medi­en — manch­mal erstaunt — fest­ge­stellt wird: Die Gesell­schaf­ten der west­li­chen Welt sind in ent­ge­gen­ge­setz­te, sich häu­fig unver­söhn­lich gegen­über­ste­hen­de Lager gespal­ten. Und es sind nicht nur die Bri­ten, die Öster­rei­cher, die Polen oder die Ame­ri­ka­ner, auch in unse­rer deut­schen Gesell­schaft ist immer wie­der eine tie­fe Zer­ris­sen­heit erkenn­bar. Wir wis­sen das spä­tes­tens seit Pegi­da und Antipegida.

Doch das, was jetzt so auf­fäl­lig gewor­den ist, gibt es schon sehr viel län­ger. Ich ken­ne es per­sön­lich aus zwan­zig Jah­ren Män­ner­ar­beit. Die­se ist von jeher in unver­söhn­li­che Lager gespal­ten, die sich ganz grob in Pro­fe­mi­nis­ten und in Mas­ku­lis­ten unter­tei­len las­sen. Ich ken­ne bei­de Sei­ten ganz gut und weiß auch, dass sie bei­de zumin­dest beden­kens­wer­te Argu­men­te und The­men ver­tre­ten. Doch um Sach­lich­keit geht es sel­ten. Gegen­sei­ti­ge Dif­fa­mie­run­gen bestim­men schon lan­ge den Dis­kurs — auch wenn es die jewei­li­ge Sei­te für sich zurück­weist. Bemer­kens­wert ist, dass Ver­mitt­lungs­ver­su­che oder auch nur Initia­ti­ven zum Mit­ein­an­der-Reden regel­mä­ßig geblockt wer­den. Ich habe den Ein­druck, dass es gera­de dar­um geht: Nicht mit­ein­an­der ins Gespräch kom­men und die Spal­tung auf­recht zu erhalten.

Die Spal­tung unse­rer Gesell­schaft ist also kein unlieb­sa­mes Neben­pro­dukt eines “Wil­lens zur Wahr­heit”. Sie ist viel­mehr Mit­tel zum Zweck. Das ist eine wich­ti­ge Erkennt­nis, denn so müs­sen wir uns bei der Fest­stel­lung der Spal­tung unse­rer Gesell­schaft erst ein­mal nicht mit den Sach­the­men aus­ein­an­der­set­zen, son­dern das Phä­no­men an sich ver­ste­hen wollen.

In der Psy­cho­lo­gie wird von einer “Spal­tungs­ab­wehr” gespro­chen. Die­se hat den Sinn das Bild von sich oder einer wich­ti­gen Bezugs­per­son als nicht-ambi­va­lent, also als aus­schließ­lich gut (manch­mal auch umge­kehrt als Form der eige­nen Selbst­an­kla­ge als “nur schlecht”, um die Bezugs­per­son zu schüt­zen) auf­recht zu erhal­ten. Auf sich selbst bezo­gen bedeu­tet das, die eige­nen Ambi­va­len­zen, die eige­nen dunk­len Antei­le nicht zu sehen und sie stell­ver­tre­tend ande­ren zuzuschreiben.

Die Ent­ste­hung einer Spal­tungs­ab­wehr ist bio­gra­fisch dem ers­ten Lebens­jahr zuzu­ord­nen, also einer Zeit, in der die rea­len Ambi­va­len­zen in jedem Men­schen und jeder Bezie­hung nicht aus­halt­bar sind. Spal­tung ist dem­nach eine früh­kind­li­che Abwehr, um die erleb­te Welt aus­halt­bar zu machen.

Die­se Aus­sa­ge eröff­net den zen­tra­len Erklä­rungs­an­satz für die Spal­tungs­ten­den­zen in unse­rer Gesell­schaft. Es geht dar­um, die jeweils eige­nen Unsi­cher­hei­ten abzu­weh­ren, um das eige­ne Leben hand­hab­bar und erträg­lich zu machen. Ein Bei­spiel: Die Nazis weh­ren so ihre tief sit­zen­den Ängs­te ab, die Anti­fa ihren eige­nen Men­schen­hass. Es sind aber eben nicht die Ängs­te vor Flücht­lin­gen, son­dern vor der eige­nen Halt- und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit. Es ist nicht der (ver­meint­lich berech­tig­te) Hass auf Nazis, son­dern die Selbst­ver­ach­tung auf­grund der eige­nen Zer­stö­rungs­wut, die man nicht wahr­ha­ben möchte.

Ein Aus­weg aus der Spal­tung kann daher nur gelin­gen, wenn sich der Blick zuerst auf sich selbst rich­tet. Wer einen ande­ren Men­schen bekämp­fen möch­te, soll­te sich fra­gen, was die­ser ver­kör­pert und was man an sich selbst nicht sehen möch­te. Damit kann es gelin­gen, die eige­nen, viel­leicht unan­ge­neh­men Sei­ten zu erken­nen und sich so in all sei­ner Ambi­va­lenz als “guter”, bemüh­ter und eben­so “böser” und begrenz­ter Mensch wahr­zu­neh­men. Mit die­ser Hal­tung könn­te die Erkennt­nis einer Spal­tung sogar Gutes bewir­ken: Man lernt sich selbst bes­ser ken­nen und fühlt sich dem ande­ren näher, verwandter.

Das Buch »Ist Gott noch zu ret­ten?« hat zum Ziel, unnö­ti­ge Spal­tun­gen abzu­bau­en. Es baut bei­spiels­wei­se Brü­cken zwi­schen Athe­is­ten und reli­giö­sen Men­schen und zeigt so auf, dass auch in solch grund­le­gen­den Fra­gen, wie der Welt­an­schau­ung man­ches Mal Grä­ben gese­hen oder gar auf­ge­ris­sen wer­den, wo sie nicht sein müssten.

Dar­über hin­aus aber zeigt das Buch, dass Ambi­va­len­zen unauf­lös­lich zu unse­rem Leben gehö­ren. Die Welt lässt sich eben nicht ein­fach in gut und böse, rich­tig und falsch ein­tei­len. Jeder Mensch steht vor der Auf­ga­be, sei­ne ambi­va­len­te See­le, also sei­ne guten wie sei­ne bösen Sei­ten zu erken­nen und zu ver­ant­wor­ten. Das ist Erwachsensein.

Mat­thi­as Stieh­ler
Ist Gott noch zu ret­ten?
Wor­an wir glau­ben können

Ver­lag tre­di­ti­on Ham­burg 2016

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